eic kyf msh nnz uhz tv nt
Mi, 12:28 Uhr
16.02.2011

Aus der Feder der Gefangenen

Wie kann man Erinnerung nicht nur wach halten, sondern sie aus Büchern und Bildern in den Kopf und das Herz der Menschen tragen? Wie kann das Unfassbare fassbar(er) gemacht werden? Die nnz hat gestern Abend im Bürgersaal einen Eindruck davon gewinnen können, wie so etwas möglich sein kann...

Janka Heschele ist gerade 11 Jahre alt. Sie sitzt in einem Zug, der nach Belzec fährt. Belzec liegt nahe Lublin im östlichen Polen.
Das Mädchen schreibt:

Wie schrecklich der Anblick –
Ein Waggon voller Menschen
Und Tote dazwischen.
Nackt stehn sie, ihr Stöhnen
Geht unter im Rattern der Räder.
Nur der Verurteilte hört,
Was das Rad zu ihm spricht –
Nach Belzec...nach Belzec...nach Belzec...
Zum Tode...zum Tode...zumTode...
Nach Belzec...nach Belzec...nach Belzec...
Für den Tod...für den Tod...für den Tod.

[...]*


Das Rattern der Gleise singt von dem Schicksal, dem der Transport entgegen rollt, denn in Belzec steht eines der ersten Vernichtungslager der Nazis. Janka Heschele kann fliehen. Sie überlebt. Andere, unzählige andere, nicht. Aber sie haben geschrieben, wie das 11 jährige Mädchen. Geschrieben über Tod, Leid, Angst und Hunger über Krankheit und Deportation, über das Leben im Lager und im Gefängnis aber auch über Hoffnung, Träume, Erlösung, Rache und Liebe.

Lyrik gegen das Vergessen (Foto: Angelo Glashagel) Lyrik gegen das Vergessen (Foto: Angelo Glashagel) Der Band „Lyrik gegen das Vergessen“ versammelt Texte, die von KZ-Insassen, Ghetto Bewohnern, Inhaftierten und letztlich Verdammten während ihrer Gefangenschaft geschrieben wurden. Sie haben ihre Zeilen zu Papier gebracht und versteckt. Sie haben sie in Kleidung eingenäht, vergraben, an Verwandte, Vertraute und andere Häftlinge weitergegeben oder schlicht auswendig gelernt, damit sie den eigenen Tod überdauern mögen.

Es sind keine großen Dichter die hier geschrieben haben, sondern ganz normale Menschen. Es sind die Werke junger und alter, männlicher und weiblicher, jüdischer oder kommunistischer Laien-Lyriker. Doch vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung sind eindringliche, verstörende und manchmal geradezu entsetzliche Verse entstanden, die einem das Herz zuzuschnüren vermögen.

So war am gestrigen Abend etwa ein Gedicht zu hören, in dem ein Mann seinen zwei Mithäftlingen eröffnet, dass er sterben wird. Er bittet sie darum, dies vor den Wächtern zu verbergen und seine Leiche nach seinem Tod in ihre Mitte zu nehmen, ihn fest zu packen und eine Schüssel in der steifen Hand zu fixieren, auf dass sie bei der Essensausgabe eine zusätzliche Portion erhalten mögen und so vielleicht selbst dem Tod entrinnen können.

Die Texte wurden von dem Germanisten Michael Moll seit 1979 in langer und akribischer Arbeit gesammelt und geordnet. Wo es möglich war hat Moll die Hintergründe der Gedichte und ihrer Autoren recherchiert. 1991 veröffentlichte er den Band „Lyrik gegen das Vergessen“. Die Schauspielerin Ursula Illert und die Cellistin Anka Hirsch organisieren seit mehreren Jahren Lesungen dieser Gedichte und haben die Verse eindrucksvoll vertont und 2009 auf einer CD veröffentlicht.

Ursula Illert und Anka Hirsch (Foto: Angelo Glashagel) Ursula Illert und Anka Hirsch (Foto: Angelo Glashagel)

Illert und Hirsch waren es auch, die gestern im Bürgersaal des neuen Rathauses dem Publikum die Texte näher brachten. Die Cello Einlagen, mal langsam-melancholisch, mal aufgeregt schnell, beinahe gehetzt, mal tief-traurig brummend, aber immer kurz, schaffen Brücken von Gedicht zu Gedicht. Beginnt Illert zu sprechen, schweigt das Cello und gibt der eindringlichen Stimme Illerts Raum den Hörer zu berühren.

Die so vorgetragenen Gedichte und Lieder machen das Unfassbare wenn nicht gänzlich verständlich so doch aber greifbarer. Es manifestiert sich im Innersten und jagt bedrückende Schauer durch den Leib, so dass der Schrecken und das Leid einem zumindest im Ansatz vor Augen geführt werden.

„Die Worte kann ich nicht wegschieben, kann nicht wegschauen, wie das vielleicht bei den Filmaufnahmen möglich ist. Man kann sich nicht so leicht abwenden, sondern kann nachempfinden was dem Menschen widerfahren ist.“ so Urusla Illert. „Ein halbes Jahr musste ich mich auf diese Auftritte vorbereiten, damit ich nicht während der Lesung in Tränen ausbreche, was dann aber dennoch ein paar mal geschehen ist.“ Bisher sei die Resonanz immer positiv gewesen, erzählt Illert weiter, auch wenn das Publikum nach dem Vortrag schon mal in Schweigen verharre, statt in Applaus zu verfallen.

Organisiert wurde die gestrige Veranstaltung vom Thüringer Landesbüro der SPD nahen Friedrich-Ebert Stiftung. Bereits zum dritten Mal arbeitete die Stiftung mit den beiden Künstlern zusammen, um im Rahmen des Holocaust-Gedenktages, dem 27.Januar, an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Für den Leiter des Landesbüros, Dr. Dietmar Molthagen, sind die Gedichte eine besonders angemessene und passende Form des Erinnerns:

„Die persönliche Erfahrung, die hinter diesen Texten steht, rückt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt und hebt ihn so aus der anonymen Masse der Zahlen, die in den Geschichtsbüchern stehen.“

Das Abstrakte der Vergangenheit gewinnt an Kontur in der Gegenwart. Aber der Effekt, den die Gedichte auf den Zuhörer und Leser haben, waren nicht das alleinige Anliegen des gestrigen Abends. „Es ist auch in dem Sinne der Verfasser, dass diese Verse und somit letztlich sie selbst nicht in Vergessenheit geraten.“ so Dr. Molthagen.

Mit dem aufschreiben ihrer Gefühle, Gedanken und Erlebnisse bewahrten sich die inhaftierten Poeten nicht nur ein Stück ihrer eigenen Identität. In dem sie die Gedichte weitergaben, versteckten, vergruben oder nach ihrer Befreiung aufschrieben, bezweckten sie auch das die kommenden Generationen nicht vergessen mögen, was damals tatsächlich geschehen ist.


Vergesst nur nicht, wenn wir auch nimmer wiederkehren,
Wenn wo wir sterben einst kein Holzkreuz steht,
Und wenn von all dem Leid, das wir getragen,
Kein Laut noch und kein Stöhnen aus den Gruben weht.

Vergesst nur nicht, wenn auch die Tage wandern und die Jahre,
Wenn Blumen blühen wo der Tod gesät,
Und wenn dereinst auf unserem Feld der Tränen
Der Schnitter wieder reife Halme mäht!
Auch dann: Vergesst nur nicht!

Peter-David Blumenthal-Weiss
1944, wahrscheinlich im Konzentrationslager Auschwitz geschrieben.*


*Auszüge aus „Lyrik gegen das Vergessen“; Michael Moll, Barbara Weiler (HG.)
Schüren Verlag, Marburg 1991.
Autor: agl

Kommentare

Bisher gibt es keine Kommentare.

Kommentare sind zu diesem Artikel nicht möglich.
Es gibt kein Recht auf Veröffentlichung.
Beachten Sie, dass die Redaktion unpassende, inhaltlose oder beleidigende Kommentare entfernen kann und wird.
Anzeige symplr
Anzeige symplr