kyffhaeuser-nachrichten.de
Lichtblick

Leben wir in „Verrücktenstadt“?

Freitag, 12. Oktober 2018, 07:00 Uhr
Am 5. September 2018 ging eine Meldung um die Welt, die auf ein Enthüllungsbuch des hoch angesehenen Journalisten und Pulitzer-Preisträgers Bob Woodward, der 1973 gemeinsam mit Carl Bernstein den Watergate-Skandal aufdeckte, der zum Rücktritt des Präsidenten Richard Nixon führte, hinwies...


In diesem Buch („Angst - Trump im Weißen Haus“) kommen engste Vertraute des derzeitigen amerikanischen Präsidenten zu Wort, die in erschütternden Berichten dokumentieren, dass sie permanent damit beschäftigt sind, die Volten des Präsidenten irgendwie zu begrenzen und den sprichwörtlichen „Elefanten im Porzellanladen“ zu bändigen.

Ein paar Schlagzeilen:
„Im Weißen Haus regieren Chaos, Ahnungs- und Respektlosigkeit“,
„Trump habe das Verständnis eines Fünft- oder Sechstklässlers“ (Mattis),
Wirtschaftsberater Gary Cohn stahl einen Brief vom Schreibtisch des Präsidenten, der das Handelsabkommen mit Südkorea aufkündigen wollte, „aus Gründen der nationalen Sicherheit“.
John Kelly, 2017 von Trump gefeuerter Stabschef, sagte über seinen Präsidenten „Er ist ein Idiot. Es ist sinnlos zu versuchen, ihn von irgendetwas zu überzeugen. Er ist entgleist. Wir sind in Crazytown.“

Nun nehme ich, was hier beschrieben wird, wie wir alle nur aus der Ferne wahr und wir tun gut daran, nicht darüber zu urteilen, denn das tut das Volk der Amerikaner spätestens bei der nächsten Wahl selbst (so oder so), die Geschichte aber in jedem Fall.

Ich mache mir sehr viel mehr Sorgen über uns und den Zustand unserer Gesellschaft, die manchmal auch wie eine Ortschaft „Crazytown“ anmutet. Als Christ gilt für mich die Ansage der Bibel, konkret des Jakobusbriefes: „Es sei aber euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein, damit ihr nicht dem Gericht verfallt.“ Gemessen daran sind all jene, die ihre Meinung frei bekennen, auf biblischem Boden. Doch hinzu kommt noch ein weiterer Text, der gleichzeitig im Blick sein sollte: I Kor 10,23+24: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient.“

Und genau da gibt es eine erstaunliche Schieflage – nicht nur international bei den Putins, Erdogans, Orbans oder Assads, sondern ganz nah bei uns. Da gibt es beispielsweise Menschen, die allen Ernstes glauben, dass es die BRD nicht gibt. Die BRD, in/von der Sie ihren Lohn empfangen, ihre Eltern im Altersheim und ihre Kinder im Kindergarten versorgt werden, von der sie ihr Hartz IV empfangen usw.
Sie horten Waffen und Sprengstoff und rufen ein „Königreich Sondershausen“ aus und tragen Ihre Überzeugung offen zur Schau, z.B. mit der Flagge des Deutschen Reiches am Nummernschild, statt des EU-Zeichens mit dem D. Doch sie suchen damit nicht das Wohl der ganzen Nation, sondern für sich selbst. Sie haben einen ausschließenden Charakter und suchen damit das Ihre. Genau das sollen wir nicht tun, wie der Apostel Paulus sagt.

Oder: mir ist schleierhaft, wie Menschen allen Ernstes auf den Straßen für sich einen Spruch reklamieren und in Anlehnung an die Montagsdemonstrationen „Wir sind das Volk“ rufen und damit den Eindruck zu erwecken suchen, sie seien das Revival der friedlichen Revolution oder deren Fortsetzung. Wie geschichtsvergessen muss man sein, dass wirklich zu glauben? Aber in Zeiten, in denen Menschen sogar glauben, dass die Kondensstreifen der Flugzeuge „Chemtrails“ seien, die sie zu verdummen suchen und von dunklen Hintermännern gerade über Wahlkabinen in Auftrag gegeben würden, ist offensichtlich auch das vorstellbar, was bisher undenkbar schien.

Haben vor knapp 30 Jahren viele Menschen unter dem Einsatz ihres Lebens und ganz realer Prügel durch Volkspolizisten in Leipzig und Berlin „Wir sind das Volk“ gerufen, um die Meinungsfreiheit zu erkämpfen, den Polizei- und Stasi-Staat niederzuringen und die Mauer einzureißen, tun die heutigen „Volksgenossen“ etwas völlig anderes: Sie rufen in einem Staat, der ihnen eine manchmal kaum erträglich großzügige Meinungsfreiheit gewährt und ohne jede Angst über die Straßen laufen lässt, ja sogar ihre Demonstrationen mit Polizei absichert, damit es zu keinen Zusammenstößen mit ebenso unflätigen Linken gibt, nach der Wiedererrichtung von Mauern, die die Menschen vor 29 Jahren so mutig einrissen – in den Köpfen und ganz echt an der Grenze „der größten DDR aller Zeiten“.
Nein und abermals Nein, diese Demonstranten von heute haben nicht ansatzweise das Recht, sich auf die friedliche Revolution zu berufen und sich dieses Satzes „Wir sind das Volk“ zu bemächtigen. Sie wollen genau das Gegenteil dessen, was die Menschen 1989 wollten.

Stattdessen suchen Menschen Schüler für Spitzeldienste zu gewinnen, fordern wie weiland die Gestapo die Kinder auf, ihre Lehrer, Mitschüler und Eltern anzuzeigen. Ich hoffe, dass alle Schüler wirklich jedes Problem in Hamburg an diese Partei mitteilen, ihnen wird es mit der Informationsfülle wie der Stasi gehen.

So sehr weit weg davon ist die Denke hinter diesem Aufruf ja auch nicht, zumal gerade diese Woche deutlich wurde, wessen Duktus die Reden eines Parteioberen einer sich alternativ dünkenden Partei haben. Bekommt denn wirklich niemand mit, dass dieser Mann von 1973-2013 Mitglied und in maßgeblichen Stellungen der CDU war (im Frankfurter Magistrat, im Bundesumweltministerium, in der Hessischen Staatskanzlei) und jetzt die Partei von vorgeblich außen beschimpft und „vor sich her treibt“, die er Jahrelang mit gebildet und geformt, deren Entscheidungen er mitbestimmt hat? Sieht denn keiner, dass der Kaiser keine Kleider anhat?

Viele Menschen sehnen sich nach dem sozialen Zusammenhalt der DDR-Zeit zurück. Das kenne ich, ich habe sie am eigenen Leibe erlebt. Doch dieser Zusammenhalt war durch Repression erkauft, ein hoher Preis für ein gutes Miteinander, in dem oft genug auch Genossen von „Horch und Guck“ ihre Finger mit im Spiel hatten.

Der soziale Zusammenhalt ist auch mir wichtig. Er entsteht aber nicht durch Hetze und Hass, sondern durch ein umeinander bemühen, wie es Paulus schreibt. Von sich ab auf andere hinsehen. Das suchen, was dem anderen dient. Wenn das beide tun, ist auch für beide gesorgt. Wenn nur auf das eigene Wohl geachtet wird, dann verlieren beide. Nicht nur sich selbst. Denn der, der viel hat, kann sich seiner und seines Besitzes nicht mehr sicher sein. Das sehen wir z.B. in Südamerika, wo reiche Einheimische sich gegen arme Einheimische mit hohen Mauern zu schützen versuchen und doch nicht sicher sind.

Wenn so sehr an der Heimat gehangen wird, dann muss sich jeder und jede auch damit befassen, was diese Heimat ausmacht, was zu ihrem Inhalt und zu Ihrer Tradition gehört. Wer nur weiß, was er nicht glaubt und will, der ist einem Menschen, der genau weiß, was er will und glaubt, argumentativ unterlegen.

Deswegen runter von der Straße. Aufhören mit dem Gebrüll. Das ist alles nur feiges Verhalten und kostet nichts außer Zeit, Stimmkraft und baut nichts auf.
Sich auseinandersetzen, intellektuell nach dem Wohl der ganzen Gesellschaft und der Stadt Bestem zu suchen, Fehler benennen (ja, das gehört ganz wesentlich dazu, aber nicht mit „Schaum vor dem Mund“) und Lösungen zu finden, das ist wichtig und tut Not.

Wir dürfen nicht beim Benennen von Fehlern stehen bleiben und beim Herauswürgen von Halbwahrheiten auf der Straße. Niemand ist geholfen, keinem In- und keinem Ausländer, wenn wir uns anbrüllen. Es entlastet uns nicht einmal, es bringt uns nur in eine Gewaltspirale, die destruktiv ist.

Viel richtiger, wenn auch aufwändiger, ist es, wenn wir gemeinsam Lösungen suchen, nicht nur in Zirkeln die uns unsere Vorurteile bestätigen, sondern die wirkliche Auseinandersetzung. Ich habe schon häufiger dazu eingeladen, in meine Gottesdienste zu kommen und im Anschluss auf gepflegtem Niveau über die angesprochenen Dinge zu diskutieren. Leider nimmt das niemand an, wenn auch meine Predigten fast alle auf der Homepage des Kirchenkreises nachzulesen sind.

Intellektuelle Auseinandersetzung kostet Kraft, sie verlangt Kompetenz und den Willen nach einer Antwort, die meine bisherigen Antworten womöglich in Frage stellt. Aber gerade das hat die Deutschen viele Jahrhunderte ausgemacht: Das Land der Dichter und Denker und Philosophen. Derzeit sind wir nur ein Land der BeDenkenTräger und Schreihälse.

Das geziemt sich nicht und ist auch kein gutes Aushängeschild für uns Deutsche. Besinnen wir uns und fassen wir uns wieder Mut. Suchen wir nach dem Wohl aller, dann ist für alle gesorgt. Fangen Sie damit an, in ihrer näheren Umgebung, suchen Sie den Austausch, den Diskurs und den richtigen Weg. Suchen Sie auch dann und wann den Weg in die Kirche. Dann ist mir um uns und unsere Heimat nicht bang.

Ein gesegnetes und nachdenkliches Wochenende wünsche ich Ihnen,
Superintendent Kristóf Bálint
Autor: red

Drucken ...
Alle Texte, Bilder und Grafiken dieser Web-Site unterliegen dem Urherberrechtsschutz.
© 2024 kyffhaeuser-nachrichten.de