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Sonderausgabe Lichtblick

„Suchet der Stadt Bestes“ – Wort zum Himmelfahrtstag

Donnerstag, 21. Mai 2020, 07:02 Uhr
„Wenn ich mein Leben nochmal leben könnte, dann würde ich Vieles anders machen.“ Das ist einer der häufigsten Sätze, die ich als Pfarrer in Seelsorgesituationen an Kranken- und Sterbebetten gehört habe. Ich kenne ihn gut, denn auch in meinem Leben gäbe es Dinge, die ich aus der Rückschau gern anders gemacht hätte. Wer kennte das nicht? Sie?

Die Crux ist, dass wir nun einmal Fehler machen. Das gehört zum Menschsein dazu. Wichtig ist, dass wir daraus lernen, sie für andere hörbar eingestehen und sie (möglichst) nicht wiederholen. Wer aus seinen Fehlern lernt, für den haben sich die empfundenen Schmerzen, die Scham, die Ohnmacht, der Frust gelohnt und in positive Energie gewandelt.

Manchen Fehler machen wir auch, weil wir glauben, dass es die beste denkbare Entscheidung ist. In einer konkreten Situation scheint uns nur eine Möglichkeit sinnvoll und geboten. Danach merken wir, dass es noch bessere gegeben hätte. Wir sahen sie aber erst nachdem wir entschieden hatten oder, weil wir die Folgen unserer Entscheidung anders eingeschätzt haben.

Zwei Beispiele:
Wir haben dem Benzin mehr ökologisch-nachhaltige Ölanteile hinzugefügt, um umweltbewusster Auto zu fahren. Das war sehr löblich. Nur sind als Folge davon die Rohstoffpreise für ölhaltige Lebensmittel und Getreide nach oben geschossen und wurden für die Ärmsten der Armen noch unerschwinglicher. Unser guter Ansatz, der uns ein besseres Gewissen mit Blick auf die Mitwelt verschaffen sollte, führt zu Versorgungsproblemen und Hunger bei den Ärmsten dieser Welt.

Die Verpackungen unserer Lebensmittel wurden aus Plastik/Plaste gefertigt, um sie hygienisch sauber und vor herumdrückenden Zeitgenossen, die erst zufrieden sind, wenn sie die Weinbeere zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt haben und die Rebe dann weglegen, zu schützen. Plastik hat seine guten, aber eben auch seine problematischen Seiten. Diese werden jetzt bewusster, infolge dessen ist die gute Idee desavouiert.

Nun diese Pandemie. Seit 1918/1920 hat es nichts annähernd Vergleichbares gegeben. Niemand hat persönliche Erfahrungen mit den Folgen der Spanischen Grippe damals, als weltweit zwischen 27-50 Millionen Menschen an deren Folge starben.
Insofern ist es nur verständlich, dass nach anfänglicher Skepsis (ob das nicht übertrieben ist?) äußerste Vorsicht obwaltete und sehr restriktiv gehandelt wurde. Ich selbst habe noch im Februar vor einem Markt zwei Seniorinnen laut und unter 1,50 Meter Abstand diskutierend erlebt, die von „Aufbauschen“ und „Übertreibung“ sprachen, obwohl sie der Hauptrisikogruppe angehör(t)en.

Zuweilen wird jetzt Politikern vorgeworfen, dass sie die Pandemie erst verharmlost (Jens Spahn am 23.01.2020: „Es sei wichtig, die Krankheit einzuordnen“. Spahn verwies in diesem Zusammenhang auf die Grippe, an der in Deutschland jedes Jahr bis zu 20.000 Menschen sterben. "Auch das ist eben ein Risiko, das wir jeden Tag haben. “Bei der neuen Lungenkrankheit sei das Infektionsgeschehen im Vergleich dazu milder.“) und dann Restriktionen verhängt haben.

Ehrlich gefragt: wäre es uns lieber, wenn, trotz neu gewonnener Erkenntnisse, ohne jeglichen Vergleich in den letzten 100 Jahren, weiter heruntergespielt worden wäre, á la Bolsonaro oder Putin oder Johnson oder Trump? Die Folgen sind dort zu sehen: Infizierte am 20.05. 11.07 Uhr: 1.528.661 in den USA; 308.705 in Russland, 271.885 in Brasilien und 250.138 in GB (zitiert nach https://www.rnd.de/gesundheit/corona-heute-20052020-aktuelle-zahlen-zu-infizierten-todesfallen-und-genesenen-ZF7G5L2KOREUFDX5XF4HGGXDFI.html). In Deutschland sind es 177.827 und die Zahl der Erkrankten wie Toten liegt pro 100.000 Einwohner deutlich unter denen der Vorgenannten. Die Zahl der Toten in Deutschland liegt übrigens pro 100.000 Einwohner auch deutlich unter der der Toten in Schweden, was ja gern als vorgeblich löbliches Beispiel dargestellt wird.

Wenn wir also die „nackten Zahlen“ sprechen lassen, dann hat Deutschland doch alles richtiggemacht. Vorausgesetzt, dass Menschenleben mehr zählen als Bilanzzahlen von Unternehmen. Das wird auch überall in der Welt so gesehen, nur nicht in bestimmten Teilen Deutschlands.

Natürlich hat diese Strategie auch Schattenseiten, die treten offen zutage. Firmen kommen ins Schlingern, Soloselbstständige und Künstler, Kleinunternehmen und Handwerker – sie haben alle mächtig zu tun, um „den Laden am Laufen zu halten“ und sehen sich z.T. vom Konkurs bedroht. Da hilft kein Schönreden, dass müssen die Betroffenen auch in Worte fassen können. Doch in kaum einem Land der Welt, unterstützt die Regierung die Wirtschaft so stark und so differenziert wie in Deutschland. Darum werden wir von vielen Ländern beneidet. Wir werden viele Jahr(zehnt)e damit zu tun haben, die dabei aufgehäuften Schulden (gemeinsam) abzutragen. Ein Blick in andere Länder Europas sollte helfen, die Relation der Klage wiederzufinden. Dessen ungeachtet ist es für einige eine sehr harte Zeit. Da hilft auch nicht Applaus allein.

Diese Tatsache darf aber nicht dazu verführen, sich in Weltuntergangsszenarien zu verstricken. Merkwürdigste Theorien von bewusster Ansteckung durch wen auch immer (die Protagonisten wechseln hier nach Belieben von Bill Gates zu einer vorgeblichen „Weltregierung“, von Juden zu Echsenmenschen/ Reptiloiden). Die Theorien können nicht abwegig und finster genug sein, alles wird von vorgeblich aufgeklärten Menschen verbreitet. Warum auch immer.

Die Komplexität unserer Situation ist extrem. Das ist wohl wahr. Aber das darf doch nicht dazu führen, dass wir unseren Verstand ausschalten, weil wir erleben, dass es unser Fassungsvermögen zuweilen zu sprengen scheint. Wer einerseits die Existenz GOTTes oder die Himmelfahrt Jesu, die wir ja heute feiern, aus Verstandesgründen in Frage stellt, kann doch nicht allen Ernstes Theorien von Reptiloiden und Chemtrails, einer „Weltregierung“ u.a. Inszenierungen für wahr halten!

Natürlich ist es nicht schön, wenn unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, wenn uns vorgeschrieben wird, wie viele Menschen wir wann und mit welchem Abstand treffen dürfen.

Natürlich ist es nicht schön, wenn in dieser außergewöhnlichen Situation „besorgte Nachbarn“ zu Denunzianten werden und alles und jedes anzeigen, so dass die Polizei nicht mehr weiß, wo sie zuerst anfangen soll zu prüfen und wirklich wichtigem nicht nachgehen kann.

Dies aber mit Repressionen in DDR-Zeiten zu vergleichen ist unverschämt und geschichtsvergessen, denn es verharmlost die DDR und es bauscht die Situation jetzt auf. Wer sich zu einem Spaziergang wie den derzeitigen trifft (die ich für absolut legitim halte, wenn sie nicht in wüste Beschimpfungen umschlagen und Behauptungen wie oben beinhalten), sollte sich vor Augen halten, dass er in DDR-Zeit wahrscheinlich von knüppelnden Volkspolizisten bedrängt und sehr wahrscheinlich verhaftet worden wäre.
Ein Blick in die sozialen Medien und die Archive wäre hier hilfreich, sich die wirkliche Situation vor der friedlichen Revolution vor Augen zu führen. Solche Vergleiche verbieten sich. Heute darf jeder und jede unbedrängt seinen Protest sagen. In den „Mitternachtsspitzen“ hörte ich von Philip Simon unlängst einen bemerkenswerten Satz, der auf manches derzeit zu Hörende zutrifft: „In unserem Land darf jeder sagen was er denkt, selbst wenn er den Schritt des Denkens überspringt.“ Manche*r verfährt zuweilen eher nach der Devise: „Wie soll ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht höre, was ich sage!“

Am (Nach)Denken sollte sich jeder Protest messen lassen und an dem, was unser Rechtsstaat an Rechten verteidigt – und wenn es durch Gerichtsurteile ist. In der DDR konnten wir keine Beschlüsse der allgewaltigen DDR-Regierung durch Gerichte überprüfen lassen, auch das sollte nicht vergessen werden, wenn solche unseligen Vergleiche gezogen werden.

Das zeigt sich auch an Protesten gegen eine imaginäre Impflicht. Wenn ein Mann wie der Weltärztepräsident Montgomery eine Impflicht fordert nachdem er vor Wochen die Maskenpflicht als lächerlich abtat, dann sagt das Einiges aus. Daraus aber eine geplante Impflicht zu konstruieren, gegen die dann lautstark und bisweilen mit Geifer vor dem Mund protestiert wird, als stünde sie unmittelbar bevor und das, obwohl wir noch meilenweit von einem Impfstoff entfernt sind, kommt mir vor wie das Hornberger Schießen. Dazu sollte uns allerseits, die vergeudete Lebenskraft zu schade sein.

Im Buch Jeremia (29,7) schreibt der Prophet seinen deportierten, z.T. vermutlich in prekären Verhältnissen lebenden Zeitgenossen einen Satz, der in der Überschrift zitiert wird: „Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's euch auch wohl.“

Suchen wir der Stadt Bestes, tragen wir die Argumente für ein Für und Wider zusammen, legen wir sie auf den Tisch und argumentieren wir mit Sachverstand und um die beste Lösung bemüht, nicht darum, Recht oder die Deutungshoheit zu haben. Mir sind verantwortliche Politiker lieber, die nach Lösungen in schwieriger Zeit suchen und dabei auch die Meinungen anderer hören und ggf. ihre eigene revidieren, als die Bolsonaros, die ihr Volk durch ihre Engstirnigkeit und Selbstverliebtheit in die Katastrophe führen. Ihnen nicht auch?

Heute ist Himmelfahrt, ein sehr komplexes Fest, ein Hochfest der Kirche. Mit ihm wird die Menschwerdung Jesu zum Weihnachtsfest wieder zur Gotteseinigkeit zurückgeführt. Sehr bildhaft. Sehr missverständlich. Sehr missinterpretierbar.

Nutzen Sie die angebotenen Gottesdienste, um sich mit dem Inhalt der Botschaft dieses Tages vertraut zu machen.
Nutzen Sie den Tag, um mit Ihnen lieben Menschen über ihre Dankbarkeit ins Gespräch zu kommen, dass es uns so viel besser geht (auch dank der restriktiven Bestimmungen) als z.B. den Menschen in Brasilien, den USA oder England.
Wir haben allen Grund dankbar zu sein und nun sorgsam wieder zu einer neuen Normalität zurückzufinden. Die alte wird es nicht mehr geben.

Aber das war nach Himmelfahrt auch nicht anders. Die Jünger erlebten den physisch anwesenden Jesus zum letzten Mal. Aus einer Ansicht im Sinne von Anblick, wurde ein Glaube im Sinne von Gewissheit und Nähe ohne körperliche Präsenz.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Feiertag. Dankbar sollte er sein ob der Bewahrung, dankbar ob der freien Zeit dank des christlichen Feiertages, dankbar auch dafür, dass wir einander haben und gemeinsam nach der Stadt (und dem Land) Besten suchen können. Umeinander bemüht und nicht besserwisserisch und aus der Situation im Nachhinein klüger. Niemand wusste es vor der Pandemie besser. Die Jünger um Jesus übrigens auch nicht und heute liegt eine zweitausendjährige Geschichte hinter uns. Ein weiterer Grund des Dankes.

In herzlicher Verbundenheit,
Ihr Superintendent
Kristóf Bálint
Autor: red

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